Martina Wolf, Sabine Reiv - inkl. Kurzinterview!



An dieser Stelle wird es überwiegend ernst, nur einen Hauch sarkastisch und dennoch sehr emotional, denn die Thematik, um die es geht, macht betroffen: Kindesmisshandlung.

 

Wir alle wissen, es gibt sie, tagtäglich, hinter unzähligen, harmlos wirkenden Türen. In spektakulären Fällen, bspw. mit Todesfolge, berichten die Medien kurzfristig massenhaft. Ich selbst hatte eine behütete Kindheit, aber auch mir sind Fälle in der Verwandtschaft, bzw. im Freundeskreis bekannt, in denen es anders war, oftmals verbunden mit Alkoholsucht (ein oder beide Elternteile).

 

Doch beginnen wir von vorn: Als ich im Jahr 2016 zu Facebook kam, lernte ich MARTINA UND SABINE kennen. Kurz vorher hatten sie ihre Biografie "Und dahinter war die Hölle" herausgebracht, die ihre furchtbaren Erlebnisse in einem gewalttätigen Elternhaus schildert. Und dieser Erfahrungsbericht hat es in sich. In meinen Augen "eisenharter Stoff", und ich zähle kaum zu den Seelen, die eine Ohrfeige bereits als Gipfel zügelloser Brutalität einstufen.

 

Wer die entsprechenden Web-Rezensionen zum Buch durchliest, wird jene Aussage größtenteils bestätigt sehen, aber auch auf negative Resonanzen stoßen. Frei nach dem Motto: "Pah, dreiste Lügengeschichten - mit einem gebrochenen Bein kann man doch nicht in die Schule laufen!"

 

Diesen Kritikern möchte ich Folgendes zu bedenken geben: In der Hirnforschung ist längst erwiesen, dass menschliche Erinnerungen von der einstmals erlebten Realität abweichen können. Und oft tun sie das auch - in einem gewissen Rahmen.

 

Aber wie dem auch sei: Ist es nicht völlig egal, ob eine Gliedmaße damals komplett gebrochen oder de facto vielleicht "nur" angebrochen war? Ob 300 ml oder 158 ml Blut geflossen sind? Ob es 63 oder eventuell "bloß" 59 blaue Flecken waren?

 

DAS, worum es geht, ist doch allein die Tatsache, dass Kindern schwere Gewalt angetan wurde, sie heftige Qualen erleiden mussten! Körperlich und seelisch. DAS kann und darf nicht sein!

 

Nebenbei: Was erwarten solche Leser eigentlich von traumatisierten Misshandlungs- bzw. Missbrauchsopfern im Kindesalter? Sollen sie mitsamt dem Schulranzen erst einmal in die nächste Arztpraxis humpeln und dort höflich um ein, zwei Röntgenbilder bitten? Zwecks zeitnaher, medizinisch korrekter Beweissicherung? In den meisten Fällen wohl etwas zu viel verlangt ... .

 

Ich jedenfalls bewundere den Mut dieser Schwestern, die sich im Erwachsenenalter zusammengesetzt, "losgelassen" und ihre Erinnerungen zu Papier gebracht haben. Im Übrigen ein nachhaltiger Befreiungsschlag, wie folgendes Kurzinterview verrät.

 

Meinen herzlichsten Dank an MARTINA WOLF und SABINE REIV. Ich freue mich, dass ihr mit "Und dahinter war de Hölle" in dieser Rubrik vertreten seid.

Kurzinterview:

 

Liebe Martina, liebe Sabine, welches persönliches Resümee zieht ihr heute – mehr als zwei Jahre nach der Veröffentlichung? Fühlt ihr euch aktuell noch ein Stück freier als zu Beginn? Und das, obwohl ihr, nicht zuletzt durch den Kontakt mit vielen Lesern und eurem Engagement in Sachen "Aufklärung", weiterhin stark mit dem Thema konfrontiert seid?

 

Liebe Jutta! Zuerst möchten wir uns ganz herzlich bei dir für das Interesse an unserer Geschichte und die viele Mühe bedanken!!!

 

Und nun zum Resümee. Eine wirklich gute Frage, die nicht so ohne Weiteres beantwortet werden kann. Wir haben unsere Erlebnisse der Kindheit jahrelang still mit uns herumgetragen, eigentlich nicht darüber gesprochen, alles mit uns selbst ausgemacht. Wir dachten: Uns glaubt doch sowieso niemand. Und da war ganz viel Scham!

 

Mit der Veröffentlichung der Geschehnisse hat sich jedoch sehr viel geändert. In der Zeit davor haben wir nämlich auch gelernt, nicht mehr so oft daran zu denken, zu verdrängen. Aber nun, durch die Phasen des Niederschreibens, der Veröffentlichung und die sehr große Resonanz (z.B. bei Facebook), sind wir tatsächlich seit zwei Jahren wieder täglich damit konfrontiert. Aber, und das ist unser Resümee, es hat befreiend gewirkt.

Es hat uns so sehr geholfen, dass wir beide von uns sagen können: Wir sind befreit, haben es endlich verarbeitet. Es war für uns beide der absolut richtige und wichtige Schritt.

 

Eine Mut machende Aussage! Sie beweist, dass es lohnenswert sein kann, sich den größten Ängsten und schrecklichsten Erinnerungen zu stellen. Ein berühmter Spruch von Winston Churchill lautet: "If you're going through hell, keep going." Ihr habt genau das im Erwachsenenalter nochmals getan, eure persönliche Hölle fokussiert durchschritten und damit hinter euch gelassen. Meinen Respekt. Im Übrigen: Nichts zu danken, ist mir eine Freude. :-)

 

Zweite Frage: Habt ihr (bspw. durch die Rückmeldungen von Betroffenen) das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben? Im Sinne von: Es gibt viel mehr Missbrauch, als angenommen, bzw. die Statistiken vernelden?

 

Resonanz aller Art gibt es zuhauf. Natürlich auch sehr negative. So werden wir teilweise als Lügnerinnen beschimpft. Oder es kommen Rückmeldungen wie: "Das ist der größte Mist, den ich je gelesen habe." Naja, sei`s drum.

Die weitaus überwiegende Anzahl ist positiv und bestätigt uns in unserem Engagement. Unzählige Leser, die Ähnliches erlebt haben, meldeten (und melden) sich bei uns, auch um uns zu dem Mut zu gratulieren, so etwas aufzuschreiben.

 

Und ja, wir haben den Eindruck gewonnen, in ein "Wespennest" gestochen zu haben. Aus unserer Sicht gibt es wirklich viel, viel mehr Gewalt an Kindern, als gedacht. Leider wird das Thema in den Medien eher stiefmütterlich behandelt. LEIDER!

 

Davon gehe ich ebenfalls aus, umso wichtiger ist eurer Engagement.

 

Welchen Ratschlag möchtet ihr erwachsenen Betroffenen mit auf den Weg geben – die sich vielleicht (noch) nicht in der Lage fühlen, ein Buch darüber zu schreiben?

 

Einen Ratschlag zu geben, fällt uns schwer. Wir können ja nur für uns sprechen, basierend auf dem individuellen Umgang mit dem Erlebten und den ganz persönlichen Erfahrungen daraus. Aber viele Leser haben uns geschrieben, dass sie auch etwas zu Papier gebracht haben,, ihnen jedoch die Courage fehlt, es als Buch zu veröffentlichen. All denen möchten wir Mut machen, über den Schatten zu springen und es zu tun. Ihr seid die Opfer! Ihr seid nicht alleine. Es gibt keinen objektiven Grund dafür, Täter zu schützen!!!

 

Vielleicht liest gerade jemand diese Zeilen und fasst genau diesen Entschluss. Das wäre schön!

 

Abschließende Frage: Was hat euch letztendlich doch die Kraft gegeben, zu so herzlichen und sozialen Menschen zu werden, wie ich sie – zumindest online – kennenlernen durfte? Viele Betroffene zerbrechen ja an derartigen Erlebnissen und führen nicht selten sogar das an ihren Kindern fort, was ihnen selbst angetan wurde. Waren es eure Partner, Freunde, Kinder, irgendwelche sonstigen Schlüsselerlebnisse, die euch davor "bewahrt" haben?

 

Lieben Dank für das "versteckte" Kompliment an uns! Wir glauben, und das gilt auch für unsere Geschwister, dass uns die eigene schreckliche Kindheit so sehr geprägt hat, dass wir niemals so sein wollten, wie unsere sogenannten "Eltern". Alles, nur nicht das! Nicht mal im Ansatz! Dieser Gedanke stellt bis heute die treibende Kraft in unserem Leben dar.

Wir haben es letzlich alleine geschafft. Unsere eigenen Kinder sollten in Liebe aufwachsen. Alle fünf sind inzwischen erwachsen und bestätigen uns immer wieder, dass es voll und ganz gelungen ist! Der unbedingte Wille, alles zurückzulassen, es anders zu machen, als wir es erfahren mussten, hat ganz sicher dazu geführt, dass wir doch noch "normale" Menschen werden konnten. So gesehen, war die Kindheit unser "Schlüsselerlebnis".

 

Das ist in Satz, der mich schlucken lässt. Vor allem da er, wie weiter oben erwähnt, auch in die negative Richtung "ausschlagen" kann.

 

Danke für eure Ehrlichkeit! Und vielleicht sensibilisiert dieser Beitrag den ein oder anderen Leser, genauer hinzusehen, was in der Verwandtschaft, Nachbarschaft usw. geschieht. Denn mangelnde Aufmerksamkeit oder gar "feiges Wegsehen" stellen ganz sicher gewichtige Punkte dar, die in der Debatte über Kindesmisshandlung eine Rolle spielen. Nicht umsonst taucht bei typischen "medienwirksamen" Schwerstfällen stets folgende Frage auf: "Wie war DAS bloß möglich?"

 

Tja, darüber sollten wir alle nachdenken ...

 

Und hier geht's zu einer kurzen Leseprobe von "Und dahinter war die Hölle".