KEIN GEWÖHNLICHER MORD


Titel: Kein gewöhnlicher Mord

Autor: Renate Lehnort

Verlag: Independently published

Formate: E-Book, Taschenbuch

Genre: Kriminalroman

 

Link zu AMAZON


Klappentext:

 

SPÄTE RACHE … Horst Rabe wird von seinem Chef in den Urlaub geschickt, aber auch dort holt ihn die Arbeit ein. Ein Reisegefährte – Volksschullehrer Klaus Winkler – wird auf grausame, ungewöhnliche Weise ermordet. Bald stellt sich bei den Ermittlungen heraus: Winkler war in seiner Familie ein Despot und hatte eine Vorliebe für kleine Mädchen – machte auch vor seinen Töchtern nicht halt. Horst Rabe und sein Team stehen vor einem Rätsel, es gibt viele Verdächtige, aber keine Spuren, die auf einen Täter oder eine Täterin hinweisen. Als auch ein zweiter Lehrer und die Direktorin der Schule ermordet werden, geraten die Ermittler unter Druck – Staatsanwaltschaft und Innenministerium fordern Ergebnisse. Kommissar "Zufall" greift schließlich in Form eines kleinen Mädchens ein und bringt Licht ins Dunkel ...

Leseprobe:

 

Fünf Minuten vor 22 Uhr, bog Horst in die Engerthstraße – eine Seitenstraße des Mexikoplatzes – ein. Weit und breit war kein Parkplatz zu sehen. Fluchend umrundete er zweimal den Wohnblock. Beim dritten Anlauf fuhr vor ihm ein kleines Auto weg. Mit Mühe parkte er in die schmale Lücke ein und stieg danach mit schlangenähnlichen Bewegungen aus. Der kalte Oktoberwind pfiff ihm um die Ohren und vertrieb den letzten Rest seiner Müdigkeit.

Bei Julia und Felix angekommen klopfte er auf die Motorhaube, Felix stieg aus. "Servus", sagte er. "Hat sich bis jetzt nichts getan. Wo steht dein Auto?"

"Etwa 10 Minuten entfernt, Engerthstraße 193. Die Papiere liegen im Handschuhfach. Hier ist der Autoschlüssel."

Felix steckte ihn ein, brummte "Bis morgen", winkte und war wenig später verschwunden.

Horst öffnete die Tür des Beifahrersitzes, stellte Julia seine Aktentasche auf den Schoß und sagte statt einer Begrüßung: "Mach sie auf, du wirst erfreut sein." Dann warf er schwungvoll die Tür zu und nahm wenig später neben ihr Platz.

Julia warf einen Blick in die Tasche. "Erinnert mich an das Märchen ‚Tischlein deck dich‘", lachte sie.

Horst grinste. "Man soll Unangenehmes so angenehm wie möglich machen – die Nacht ist lang."

"Wem sagst du das! Ich habe eben erst eine erlebt."

"Du hättest nicht müssen – das weißt du."

"Leo hat Familie und Kinder brauchen einen Vater", stellte Julia fest und schraubte die Thermosflasche auf. "Ich habe es am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn er nie da ist."

"Was war dein Vater von Beruf?"

"Rate mal. Polizist."

Horst schwieg, was hätte er auch darauf sagen sollen? Gretas Beschwerden, Tanja zu wenig Zeit zu widmen – wie oft hatte er sie gehört. Um sich abzulenken, drehte er das Radio auf. "Horch, ein Schlager aus dem Sechziger … Deep Purple, ‚Smoke on the water‘."

"Mag ich", sagte Julia und hielt Horst den gefüllten Kaffeebecher hin. "Ich bin mit dieser Musik aufgewachsen. Meine Mutter spielt sie jetzt noch andauernd."

"Hast du Geschwister?"

"Ja, drei Brüder – ich bin die Jüngste."

"Drei Brüder? Und du das Nesthäkchen. Da hattest du es sicher nicht leicht."

Julia lachte. "Ich schon, sie nicht. Es wurde erst ab vierzehn schwierig, da sie im Irrglauben lebten, auf mich aufpassen zu müssen. Das hat sich gegeben, als sie mich nur mit Mädchen sahen. Von meiner Vorliebe für das weibliche Geschlecht ahnten sie ja logischerweise nichts." Sie lachte abermals.

Horst stimmte in ihr Lachen ein.

"Ich habe gehört, du hast eine Tochter", sagte Julia, nachdem der gemeinsame Heiterkeitsausbruch verklungen war.

"Da hast du richtig gehört", erwiderte Horst. "Sie heißt Tanja und ist siebzehn. Ich hatte soeben ein unliebsames Erlebnis mit ihr. Stell dir vor, ich habe sie …" Er erzählte Julia von den letzten Ereignissen.

Die nächsten Stunden unterhielten sie sich angeregt über dies und das. Nach zwei Uhr früh ging ihnen der Gesprächsstoff aus. Draußen tat sich nichts, kein Mensch war zu sehen.

"Schlaf ruhig", sagte Horst, als er bemerkte, dass Julia die Augen zufielen. "Ich wecke dich, sollte etwas sein."

Um fünf Uhr früh klopfte der Regen heftig an die Scheiben. "Wach auf Julia", rief Horst und berührte sie leicht an der Schulter. "Es regnet, die Sicht ist gleich null – wir müssen raus. Am besten wir stellen uns in die Hauseinfahrt, dort können wir Graf nicht verfehlen."

Nach einer halben Stunde ließ der Regen nach, nicht jedoch der kalte Wind. "Mistwetter", schimpfte Julia, während sie von einem Fuß auf den anderen trat – trotz der dicken Gummisohlen fühlten sich ihre Zehen wie Eiszapfen an.

"Pst. Da kommt wer", zischte Horst, drückte sich so eng wie möglich in die Mauerecke, zog die Waffe und bedeutete Julia, dasselbe zu tun. "Ist er es, rede ich ihn an. Du kommst von links, ich von rechts. Okay?"

Julia nickte und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. Ihre Kehle war plötzlich rau, Hitzewellen durchströmten ihren Körper. Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Das wolltest du doch immer – jetzt hast du es.

Minuten später kam ein großer bulliger Mann mit langen Haaren durch den Torbogen der Hauseinfahrt. Kein Zweifel, es war Graf. Er schlenderte – scheinbar in Gedanken vertieft – mit gesenktem Kopf an Horst und Julia vorbei.

"Halt stehenbleiben, Polizei!", schrie Horst und trat mit gezogener Waffe von links auf ihn zu. Julia ebenfalls die Waffe im Anschlag von rechts.

Graf blieb stehen. Dann drehte er sich blitzschnell um, trat Horst mit voller Wucht gegen das rechte Schienbein und rannte los. Julia zielte auf Grafs Füße und schoss. Das Geschoss schlug neben Grafs linkem Schuh ein. Er rannte unvermindert weiter, flitzte aus dem Haustor, überquerte die Straße und verschwand in der gegenüberliegenden Parkanlage, die zu Kaiserjubiläumskirche führte – Julia hinterher.

Für Sekunden war Horst außer Gefecht gesetzt, fing sich schließlich und rannte Julia und Graf zuerst langsam, dann immer schneller nach.

Das nasse Laub bildete eine glitschige Masse auf dem Gehweg des kleinen Parks, trotzdem holte Julia auf. Noch bevor Graf den runden Vorplatz der Kirche erreicht hatte, stürzte sie sich auf ihn und wandte den Judogriff an, den sie schon hunderte Male mit Erfolg ausgeführt hatte. Graf ging jedoch nicht – wie Julia erwartet hatte – zu Boden, sondern schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege. Im nächsten Augenblick blitzte in seiner Hand die Klinge eines Springmessers auf.

Horst war nahe genug herangekommen, um die Gefahr, in der Julia schwebte, zu bemerken. Die Waffe in den Holster zu schieben und an Tempo zuzulegen waren eins. Er rannte auf Graf zu und rammte ihm wie ein wild gewordener Stier den Kopf in den Magen. Graf landete auf allen vieren, kam aber sofort wieder mit dem Messer in der Hand hoch und attackierte Horst.

Leicht gebeugt ließ Horst Graf an sich herankommen, wich im letzten Moment mit einer Schulterwendung aus, unterlief ihn, packte seinen rechten Arm und drehte ihn so brutal um, dass seine Knochen hörbar knackten. Graf schrie gellend auf – das Messer fiel zu Boden.

Julia schob das Messer mit der Schuhspitze zur Seite, richtete die Waffe auf Graf und brüllte: "Langsam aufstehen, Hände über den Kopf."

Wenig später klickten die Handschellen.

 

*****

 

Als Franz Graf sicher verwahrt in einer Zelle saß, rief Horst Brausewetter an und berichtete von der Festnahme. "Gut so", kam es fröhlich aus dem Hörer. "Jetzt kannst du dich wenigstens wieder auf die anderen Mordfälle konzentrieren. Das Verhör Grafs werde ich mit Staatsanwalt Strobel übernehmen, damit du entlastet bist."

Brausewetter hielt sein Versprechen. Zwei Stunden später betrat er mit Dr. Strobel, dem Horst durch den Fall des Serienmörders Roland Sieber kein Unbekannter mehr war, das Büro der SOKO Mord.

"Kompliment dem gesamten Team", sagte Dr. Strobel, drückte Horst die Hand und nickte Leo und Felix zu. "Eine so schnelle Verhaftung hätte ich nicht erwartet."

Brausewetter grinste, als hätte er den Fall gelöst.

Manchmal hat er eine Art, da könnte ich ihm eine knallen, dachte Horst, murmelte "Glück gehabt", leitete zu den Fakten über und drückte Brausewetter anschließend den Akt in die Hand.

"Wir setzen uns zum Studium ins Vernehmungszimmer", verkündete Brausewetter und wedelte demonstrativ mit dem Akt in der Luft herum. "Ich lasse dann Graf vorführen, wenn wir so weit sind. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern."

"Wir haben die Arbeit, sie das Vergnügen", ätzte Leo, als beide verschwunden waren.

"Es sei ihnen gegönnt. Apropos Arbeit … wolltest du nicht mit Felix das Umfeld der Direktorin unter die Lupe nehmen?"

"Du brauchst mich nicht daran zu erinnern", kam es patzig, "wir sind schon weg. Wann kommt Julia?"

"Am frühen Nachmittag. Meinen Schlafbedarf hole ich später nach – ich gehe früher nach Hause. Alles klar?" Horst sah Leo mit einem unfreundlichen Blick an. Er war müde, sein Schienbein schmerzte und Leos Nörgelei – das war zu viel.

Leo griff ohne ein weiteres Wort nach seinem Mantel. Seine schlechte Laune kann er für sich behalten … was kann ich dafür, wenn er zu wenig Schlaf bekommen hat, ärgerte er sich und schloss hörbar die Tür hinter sich.

Horst seufzte, legte die Füße auf die Schreibtischkante, nahm die Unterlagen der Mordfälle Winkler, Leitner und Weiß zur Hand und vertiefte sich darin. Als Brausewetter und Strobel bereits nach einer Stunde mit zufriedenen Gesichtern zur Tür hereinkamen, unterdrückte er nur mit Mühe einen ungehaltenen Ausruf.

"Graf hat gestanden", sagte Brausewetter in selbstgefälligem Ton. "Sein Motiv war reine Geldgier. Frau Schmutzer hat ihm weiteres Geld verweigert, er wurde wütend und hat mit der Weinflasche zugeschlagen. Als sie tot dalag, beschloss er, auch seinen Onkel zu ermorden und danach die Wohnung nach Wertgegenständen zu durchsuchen. Er zeigte keinerlei Reue – ein gefühlsarmer Mensch."

"War nichts anderes zu erwarten … du hättest die Leichen sehen sollen", brummte Horst.

"Das ist Gott sei Dank deine Aufgabe und nicht meine. Die Überstellung von Graf ins Landesgericht haben wir bereits veranlasst und den Papierkram, um die Indizienkette zu schließen, nehme ich dir auch ab."

Jetzt erwartet er auch noch ein Lob, dachte Horst. Tut so, als würde er mir persönlich ein Geschenk machen … dabei macht er das im Grunde nur, damit er gut dasteht … sich brüsten kann, dass unter seiner Leitung die SOKO Mord schnell und effizient arbeitet … ich kenne ihn. "Danke", murmelte er und ließ es dabei bewenden.

"Mich musst du jetzt entschuldigen Ernst, die Arbeit ruft", sagte Dr. Strobel. "Fein, dass der Mann so schnell gestanden hat. Die Verteilung der Rollen in Gut und Böse bewährt sich immer wieder. Ich wusste gar nicht, wie böse du sein kannst." Er lachte laut auf. Dann drückte er Horst die Hand, sagte "weiter so", winkte Brausewetter zu und war wenig später verschwunden.

"Netter Kerl", lächelte Brausewetter. "Dieser Fall wird die Runde machen und die Gründung der SOKO Mord bestätigen. Was nun die Mordfälle Winkler, Leitner und Weiß betrifft, sie haben oberste Priorität. Kommt ein neuer Mordfall hinzu, muss er warten. Was gedenkst du, als Nächstes zu unternehmen?"

"Das habe ich mir gerade überlegt. Ich werde mit Luise Richter, dem Mädchen, das der Direktorin die Torte überbracht hat, eine Gegenüberstellung machen. Die Kleine hat die Frau genau beschrieben und sie glaubt, sie würde die Stimme wiedererkennen."

Brausewetter verzog sein Gesicht. "Ob das sinnvoll ist, bezweifle ich."

"Ein Versuch kann nicht schaden. Ich werde Luise diejenigen vorführen, die meiner Meinung nach als Mörderin infrage kommen und die kein Alibi haben. Horst zählte an den Fingern auf: Jasmin Binder und ihre Mutter, Ulrike Weber, ihr Schwester Silke, deren Mutter Gerda Winkler und Frau Stadler. Wir werden für diese Frauen dasselbe Outfit besorgen, das die Mörderin getragen hat und sie auch in etwa das Gleiche sagen lassen."

Brausewetter hüllte sich in Schweigen.

"Ich sehe im Moment keine andere Möglichkeit. Wenn du andere Vorschläge hast, ich bin dafür offen."

"Du bist für die Klärung des Falles verantwortlich Horst, also mach, was du für richtig hältst. Eine Stimme ist noch lange kein Beweis – und das weißt du auch."

"Schon klar. Bei der Frau kann ich dann aber einhaken."

Brausewetter zuckte die Achsel. "Mir ist alles recht, was zu einer schnellen Aufklärung führt. Ist der gerichtsmedizinische Befund im Mordfall Weiß schon da?"

"Du müsstest ihn schon in deinem Mailordner haben. Steht aber nichts Neues drin, sie ist, wie vermutet, an den Tollkirschen in der Torte gestorben."

"Ruf mich an, wann die Gegenüberstellung ist. Vielleicht schau ich sie mir an."

"Wäre mir eine Ehre", sagte Horst mit einer Neigung seines Kopfes.

"Idiot", sagte Brausewetter freundlich und hieb Horst zum Abschied auf die Schulter. Als er hinausgehen wollte, wäre er beinahe mit Julia zusammengestoßen, die soeben hereinkam.

Horst warf ihr einen erstaunten Blick zu. "Was treibt dich schon hierher?", fragte er. "Nach zwei Nachtdiensten schläft man sich ordentlich aus. Es hat niemand etwas davon, wenn du übermüdet deinen Dienst versiehst. Du hast gute Arbeit geleistet, ich hätte Gra…"

"Das habe ich nicht!", entgegnete Julia und blitzte Horst an. "Erstens habe ich danebengeschossen, obwohl ich eine der Besten bei den Schießübungen bin und zweitens hat mein Judogriff nicht gewirkt. Er hat mich einfach abgeschüttelt – ich versteh es nicht."

"Wie oft hast du so einen Einsatz schon mitgemacht?", fragte Horst in Erinnerung an seine Anfangszeit.

"Gar nicht", sagte Julia und schlug die Augen nieder.

"Eben. Du warst aufgeregt und das ist durchaus normal – das gibt sich mit der Zeit. Und jetzt verschwindest du wieder. Ich will dich vor morgen früh nicht sehen.