RETROMORPHIA - PFORTE ZUR GLÄSERNEN NACHT


Titel: Retromorphia - Pforte zur gläsernen Nacht: 3 - Inkubation/Konduktor und 4 - Die Lehre vom Krieg

Autor: Claus M. Schwarz

Genre: Phantastische Erzählung 

Verlag: Independently published

Formate: E-Book, Taschenbuch

 

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Klappentext:

 

Die mittelwestliche Welt im Jahr 4038 nach dem großen Feuer. Es herrscht Krieg. Die Weilichter Marken, ein freies, jedoch in sich zerstrittenes Land, stehen am Abgrund. Die Tage der Aristokratie scheinen gezählt und was ihr folgt, ist nichts Gutes. Dämonenbeschwörer und Kultisten nutzen die Gunst der Stunde und das Chaos, um die Macht zu ergreifen. Damit nicht

genug: Wie ein dunkler Schatten, der sich über das Land legt, strömen die Truppen des reformatorischen Reichs aus den östlichen Ebenen. In dieser Zeit des Umbruchs weist die crestonische Kirche auf die Ankunft eines Erlösers - des vierten Stigmaten - hin. Pater Zisensius träumt von ihm und es stellt sich heraus, dass es der junge Taimen ist: Taimen soll die Weilichter Marken befreien. Aber ist er wirklich der, für den man ihn hält? Fest steht, dass es nur eine Zukunft geben kann, wenn er sich den Dämonen seiner eigenen Vergangenheit stellt.

 

Leseprobe:

 

Lecta saß in einer dichten Berberitzenhecke bei den Seelenbäumen, dem dunkelsten Winkel des Baumgartens, weit weg von den Lichtern und damit unsichtbar für Besucher dieses Bereichs. Sie streifte all ihre Kleidung ab und schmiegte sich wie ein Säugling ins feine Geäst der Hecke. Die dünnen, dornenbesetzten Äste kratzten Lectas Haut auf, an vielen Stellen drangen sie auch, Blut zu Tage fördernd, in sie ein. Lecta spürte das Leben unter sich. Das Kleingetier, das ihren Körper kitzelte, die erst kalte, dann wohlig warme Erde. Der Geruch von Grün und der Geruch von Braun. Sie schloss die Augen, seufzte, fing an, leise zu wimmern, kniff die Augen fester zusammen und zwang sich, zu weinen. Es verlangte ihr viel ab, denn eigentlich war sie unfähig, zu weinen. Krampfhaft presste sie die Lider zusammen, bis doch ein feiner Tränenfaden entlang ihres Nasenrückensfloss. Sie nahm ihn mit dem Zeigefinger auf, führte diesen an eine wunde Stelle am Oberschenkel. Als sich die Träne mit dem Blut vermischte, hielt Lecta den Finger nah an ihren Mund. Sie hauchte auf das Gemisch ihrer Körperflüssigkeiten. Ihr warmer Atem legte sich darüber und mit ihm schwebten geflüsterte Worte von ihren Lippen. »Fes sed haih sel ahs sed hil hov nihl.«

Und noch während sie diese Worte aussprach, spürte sie, wie sich ihr Geist und ihr Körper voneinander trennten. Ihr Blick erhob sich über den Boden und erfasste mit jedem Wimpernschlag etwas mehr von der Umgebung. Sie sah auf ihren nackten bleichen Körper

herab, auf die Hecke, auf die Pflanzen, die Bäume, das Gelände, die Gebäude, auf den Turm. Alles lag in einem bläulichen Schimmer. Der Nachthimmel war nicht schwarz, sondern tiefblau bis violett. Wie ein Vogel, doch ohne materielle Hülle, flog Lecta über das Areal der Akademie. Sie sah hinab auf die Wege und zum Turm von Samarium. Statt den Menschen, die sich dort aufhielten und bewegten, sah sie nun die Restenergien beendeter Leben. Wände und Mauern stellten kein Hindernis dar. Mit ihrem spektralen Blick beobachtete sie unzählige Schemen, die sich durch die Gärten bewegten. Einige Male konnte sie bläuliche Schlieren sehen, die sich entlang der Turmfassade rasend schnell von oben nach unten bewegten, wie Regentropfen auf einer Fensterscheibe. Nur waren die durchsichtigen Streifen frei in der Luft und größer. Es waren Menschen, die hinabstürzten, oder besser gesagt, irgendwann einmal in die Tiefe gesprungen oder gefallen waren. Selbstmörder, die in jüngerer oder ferner Vergangenheit ihrem Leben ein Ende gesetzt hatten. Ein mancher von ihnen war vielleicht auch nach einem Streit oder durch kaltblütigen Mord von einem Widersacher hinabgeworfen

worden. Wie an allen anderen Orten der Welt waren auch an diesem Ort über hunderte und tausende Jahre hinweg Menschen gestorben. Nicht wenige durch Verbrechen. Doch Lecta spitzte ihre Sinne nicht für Unrecht, das hier einst geschehen sein mochte

sondern suchte nach Spuren von Moyenn. Tatsächlich sah sie auch die Restenergien verstorbener Tiere. Sie waren sehr verschwommen, doch erkennbar und für Lecta auch nach Gattung zu unterscheiden. Pferde, Hunde, Vögel, wilde Waldtiere und natürlich etliche Katzen. Diese sah sich Lecta genau an. Aber kein Schemen passte zu Moyenn. Lecta wurde nicht fündig, wobei sie sich sicher war, dass sie sie unter vielen erkannt hätte. Wo nun Hoffnung hätte entstehen sollen, kam Verzweiflung auf.

Lecta spürte, wie ihre Kräfte schwanden und sie musste ihren Blick wieder auf den eigenen Körper fokussieren, der wie eine Leiche ausgekühlt in der Hecke lag. Würde sie zu lange warten, wäre die Gefahr groß, dass ihr Blick ihren Körper nicht mehr annehmen würde - oder andersherum. Dann würde sie auf ewig als Irrlicht durch eine immerwährende Nacht streifen, unfähig mit jemandem oder mit etwas Kontakt aufzunehmen. Sie wäre einfach verloren. Eben zu jenem Zeitpunkt, als die Gefahr ein solches Schicksal zu erleiden, groß war, entdeckte Lecta etwas Eigenartiges an einer Stelle, an der mehrere Gebäude standen. Die flackernden Lichter zweier Verblichener befanden sich etwas abseits der vielen anderen, und zwar an einem tieferen Punkt. Dort musste also ein Keller, Kerker oder Tunnel sein.

Das Licht dieser Restenergien strahlte heller. Folglich musste der Tod die beiden vor noch nicht allzu langer Zeit ereilt haben oder er war ein besonders grausamer gewesen. Oder beides. Lecta kehrte in ihren Körper zurück und stellte fest, dass er eisig kalt war. Aus den kleinen Löchern in ihrer Haut floss unnatürlich viel Blut. Ihre Lebenskraft war enorm geschwunden, die fahle Hand des Jenseitigen griff nach ihr ...